Der Kunst- und Kulturhistoriker Erwin Panofsky (1892–1968) – seit 1920 Professor für Kunstgeschichte in Hamburg, Mitglied des Kreises um Aby Warburg, Begründer der Ikonographie und Ikonologie, nach der erzwungenen Emigration seit 1935 Faculty für Kunstgeschichte am Institute for Advanced Study in Princeton, – verfügte über eine profunde klassische Bildung, die es ihm ermöglichte, die Quellentexte für die Ikonographie der Kunst von der Antike bis zum Barock zu erschließen. Zeit seines Lebens verfaßte er lateinische Gelegenheitsgedichte, die er an Freunde und Kollegen verschickte. Sie scheinen ihm gerade im amerikanischen Exil die Vergewisserung seiner europäischen Bildungsfundamente ermöglicht zu haben und werden hier erstmals in einer zweisprachigen Ausgabe mit den nötigsten Erläuterungen vorgelegt. Die lateinisch-deutsche Einleitung informiert über die Grundlagen der Ausgabe und nimmt zugleich als parodistische Auseinandersetzung mit der Tradition lateinischer Vorreden das von Panofsky initiierte humanistische Spiel auf.

Nachtrag: Die als Frontispiz verwendete Reproduktion der parodistischen Zeichnung eines "Unbekannten (Eduard Bargheer?)" (S. [IV]) ist von Karen Michels, Sokrates in Pöseldorf. Erwin Panofskys Hamburger Jahre (Wissenschaftler in Hamburg 1). Wallstein, Göttingen 2017, S. 99 nach dem Original im Warburg-Archiv im Warburghaus Hamburg reproduziert (auf das damals eben erschienene Buch hatte nur noch in einem Nachtrag zum Literaturverzeichnis hingewiesen werden können). Der von der Beschriftung des Artefakts übernommene Bildtitulus lautet: "Panofsky als »Herkules Farnese« –»Kostümfest des Kunsthistorischen Seminar. Hamburg 7. II. 1930. Panofsky als Herkules. Grisaille etwas unter Lebensgröße (1, 20) von Anita Rée«". Die aus Hamburg stammende bedeutende jüdisch-deutsche Malerin Anita Rée (1885–1933), Gründungsmitglied der Künstlervereinigung Hamburgische Sezession und der GEDOK sowie Mitglied der Hamburger Künstlerschaft, verkehrte u. a. im Umfeld Richard und Ida Demels und war von Gustav Pauli (1866–1938), dem Direktor der Hamburger Kunsthalle, durch Ankäufe gefördert worden. Dieser hatte sich seinerzeit für Panofskys Berufung auf den Hamburger Lehrstuhl eingesetzt. Verfolgungsbedingt nahm sich die Künstlerin am 12. Dezember 1933 auf Sylt, wohin sie sich zurückgezogen hatte, das Leben. (Vgl. Artikel "Anita Rée". In: Wikipedia.de mit weiterer Literatur). Auch Pauli wurde, obwohl er anders als Panofsky und Rée nicht unter § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, den sogenannten Arierparagraphen, fiel, Opfer der NS-Verfolgung. Wegen seines Einsatzes für die Kunst der Moderne wurde er zunächst suspendiert und im September 1933 seines Amtes enthoben.