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Kann hier jeder machen, was er will? – Freiheit und Verantwortung in der pluralistischen Gesellschaft des demokratischen Rechtsstaats.

 

Vortrag für die Mittelstufe der Kinder- und Jugendakademie Mannheim am 19. Mai 2015

 

Gereon Becht-Jördens, Karl-Friedrich-Gymnasium Mannheim

 

Freiheit ist uns heute, die wir hier in Deutschland, im vereinten Europa leben, eine selbstverständliche Alltagserfahrung. Deswegen denken wir über sie als Wert meistens gar nicht besonders nach. Leicht vergessen wir, wie wenig selbstverständlich es ist, daß wir sie genießen können. Alle sind wir überzeugt: ich habe ein Recht darauf, mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen zu gestalten, ich habe das Recht, selbst zu entscheiden, womit ich meine Zeit verbringen will, zu entscheiden, was ich kaufen und konsumieren will, wie ich mich kleide und style, auf welche Musik ich Lust hab, welchen Sport ich treibe, welche Computerspiele ich spiele, welche Filme ich schaue, welche Bilder ich angucke, wo ich Urlaub mache, mit welchen Freunden ich mich treffe, im wirklichen Leben oder in den sozialen Netzwerken des World Wide Web. Alles scheint uns zu freier Verfügung und Auswahl bereitzustehen. Niemand hat uns da, so meinen wir, hineinzureden. Jeder kann also machen, was er will, so scheint es auf den ersten Blick.

Und die Möglichkeiten dazu haben sich durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte vervielfacht. Offene Grenzen, Weltweiter Handel, unbeschränktes Warenangebot aus allen Teilen der Erde, freier Informationsfluß, mediale Vielfalt, Reisemöglichkeiten, Migration, das sind nur wenige Stichworte, die erklären, warum wir heute von einer Entwicklung zur Globalisierung sprechen. Sie ist schon weit vorangeschritten und setzt sich immer mehr durch. Schon längst leben wir nicht mehr in einer von der Außenwelt klar abgegrenzten einförmigen und traditionsgebundenen Kultur. Schon längst ist es nicht mehr so, daß unsere Kultur weitgehend frei von Einflüssen fremder Kulturen, Sprachen, Religionen in ihrer Besonderheit für sich besteht und sich allenfalls allmählich aus sich selbst heraus fortentwickelt. Unsere pluralistische Kultur der Moderne entwickelt sich vielmehr in einem schon jetzt atemberaubenden und sich ständig noch beschleunigenden Tempo durch ein komplexes Zusammenwirken von Traditionen unterschiedlichster Herkunft. In der Musik wird das mit Begriffen wie Crossover oder World Music bezeichnet. Hier in Mannheim brauche ich niemanden daran zu erinnern, wie selbstverständlich, wenn auch nicht immer ganz und gar problemlos, das Zusammenleben von Menschen aus allen Teilen der Welt für uns alle inzwischen geworden ist.

Hinzu kommt, daß im Zuge der Liberalisierung und Demokratisierung unserer Gesellschaft viele einschränkende Verbote und Vorschriften gelockert oder ganz abgeschafft worden sind. Die moralischen Vorstellungen sind weit weniger rigoros als früher. In der Erziehung hat man von strengen Strafen weitgehend Abstand genommen. Gewaltanwendung gegen Kinder ist inzwischen auch den Erziehungsberechtigten gesetzlich verboten und strafbar. Das Volljährigkeitsalter wurde gesenkt. Frauen und andere bisher benachteiligte oder diskriminierte Gruppen haben neue Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten erlangt und werden von den meisten, allerdings noch lange nicht von allen, besser akzeptiert und mit mehr Respekt behandelt. An die Stelle einer stark repressiven (unterdrückenden) ist ein permissive (also fast alles erlaubende) Gesellschaft getreten, vielleicht eine manchmal schon allzu permissive.

Den äußeren Rahmen bildet das Grundgesetz, das weite, aber auch nicht grenzenlose Spielräume absteckt. Die Toleranz muß, wie etwa der Philosoph Raymond Klibansky unter Berufung auf den Vater des englischen Liberalismus John Locke gezeigt hat, auch ihre Grenzen finden:[1]

 

Es ist klar, daß sich Toleranz nicht auf die Intoleranz erstreckt; umgekehrt riskiert grenzenlose Toleranz, zur Intoleranz zu führen. Auf der einen Seite setzt die Achtung vor dem Recht des Anderen voraus, daß man dessen Mißachtung nicht toleriert. Auf der anderen Seite kann grenzenlose Toleranz, beispielsweise gegenüber dem Entfachen von Haß, in Gewalt ausarten. Schließlich muß Toleranz in einem Dialog stattfinden, in einer – darauf muß man bestehen – ,wechselseitigen Anerkennung der menschlichen Würde‘, und jeder Diskurs über Toleranz ist vergeblich, wenn er sich nicht auch mit ihren Grenzen befaßt.

 

Wo die Rechte Dritter verletzt werden oder wo zur Intoleranz und zum Kampf gegen den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat aufgerufen wird, endet also die Toleranz und müssen geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Die Folge der beschriebenen Entwicklung ist, daß euer Leben anders als das früherer Generationen immer weniger von vorgegebenen Mustern und Selbstverständlichkeiten bestimmt wird. Ihr habt das Privileg, damit aber auch die Last, über viele für die Gestaltung eures Lebens wichtige Fragen selbst Entscheidungen treffen zu müssen. Den Menschen früherer Zeiten waren die meisten davon durch die Zwangslagen von Mangelsituationen, durch Sitten und Gebräuche und durch die Autorität der älteren Generation sowie von Institutionen wie Familie, Staat, Kirche und Schule einfach vorgegeben. Weder für Nachdenken und Diskussionen noch für die Entfaltung eigener Wünsche, Vorstellungen oder gar Träume war da viel Raum, man hatte sich ins Notwendige und scheinbar Unvermeidliche zu fügen.

Wir genießen unsere neuen Freiheiten, und wohl niemand würde sich die von vielerlei Beschränkungen begrenzten Lebensverhältnisse früherer Zeiten zurückwünschen, deren Enge und Bescheidenheit, aber auch Härte sich die meisten heute nicht einmal mehr vorstellen können. (ich empfehle, um sich ein Bild zu machen, sehr die anschaulichen Romane von Charles Dickens, zum Beispiel Oliver Twist oder David Copperfield) Was wir aber oft vergessen, ist, daß Freiheit auch ihren Preis hat. Denn jede Gesellschaftsordnung, jedes politische System muß sich zunächst einmal rechtfertigen, und dazu muß es unter Beweis stellen, daß es in der Lage ist, die wesentlichen Probleme wenigstens einigermaßen erfolgreich zu bewältigen. Das gilt auch für ein System, das sich ein so kostbares Gut wie die Freiheit auf seine Fahnen geschrieben hat. Wir müssen also fragen: Wovon hängt es ab, ob ein freiheitliches System funktionieren kann? Oder anders: Kann ein System auf Dauer funktionieren, in dem jeder machen darf, was er will? Ist die Freiheit einfach ein Geschenk oder fordert sie womöglich etwas von uns, damit wir sie genießen können?

Freiheit bedeutet, daß der einzelne selbst es ist, der darüber entscheidet, was er tut oder läßt und darüber, wie er tut, was er tut. Das hat zur Folge, daß er von dieser Freiheit in unterschiedlicher Weise Gebrauch machen kann und daß sein Handeln oder Unterlassen sich der Bewertung zu unterwerfen hat. Womit wir beim zweiten Stichwort, der Verantwortung, wären. Verantwortung bedeutet ja nichts anderes als Antwort geben zu müssen auf die Frage, ob das eigene Verhalten als positiv oder zumindest als akzeptabel zu bewerten ist. Ist es das nicht, kann es allenfalls durch die Einwirkung der äußeren Umstände erklärt und vielleicht auch entschuldigt werden. Es bleibt aber bei dem negativen Urteil über dieses Verhalten. Nur das Urteil über die verantwortliche Person hellt sich mehr oder weniger auf, wenn wir erfahren, daß sie nicht aus böser Absicht, sondern aus Irrtum, gewisser Leichtfertigkeit oder unter äußerem Druck gehandelt hat.

Wenn wir von Verantwortung reden, müssen wir zwei Arten von Verantwortung unterscheiden. Die erste betrifft jeden nicht im Gebrauch seines Verstandes eingeschränkten Menschen in gleicher Weise. Er ist für sein Handeln und dessen Auswirkungen auf sich und andere verantwortlich. Wir erwarten von jedem Menschen, daß er sich an bestimmte allgemeingültige Regeln hält und die berechtigten Interessen und Gefühle anderer nicht ignoriert, sondern angemessen berücksichtigt. Ständig bewerten wir, meistens unbewußt und ohne es ausdrücklich zu thematisieren, das Verhalten anderer und auch unser eigenes auf dieser Grundlage. Wir stellen also Fragen wie diese: Hätte man das tun dürfen? Wenn ja, hätte man es auf diese Weise tun dürfen? Hätte man nicht dies oder jenes bedenken müssen? Hätte man diese Gefahr nicht im Voraus erkennen können? Hätte man da nicht gewisse Vorkehrungen treffen müssen? Hätte man das wirklich unterlassen dürfen? Wie hätte ich in dieser Situation gehandelt? Das sind übrigens Fragen, die auch Juristen stellen, wenn es darum geht, festzustellen, ob schuldhaftes Verhalten vorliegt und als wie schwer gegebenenfalls die Schuld einzuschätzen ist. Sie unterscheiden zwischen Vorsatz, billigender Inkaufnahme, grober und einfacher Fahrlässigkeit. Außerdem zwischen unterschiedlichen Graden der Zurechnungsfähigkeit aufgrund von Krankheit, Affekt, Drogen- oder Medikamentenkonsum. Auch wenn Notwehr vorliegt, kann ein an sich nicht zu billigendes Handeln gerechtfertigt sein.

Um eigenes oder fremdes Verhalten beurteilen zu können, kommt es also darauf an, die besonderen Umstände zu berücksichtigen und die beabsichtigten, aber auch die unbeabsichtigten, jedoch voraussehbaren Folgen wahrzunehmen. Oft sind wir blind gegenüber negativen Auswirkungen unseres eigenen Handelns, wenn wir ein starkes eigenes Interesse verfolgen. Wir wollen dann nicht sehen und wahrhaben, daß unser Handeln andere in ihren berechtigten Interessen beeinträchtigt, sie Gefahren oder Unannehmlichkeiten aussetzt oder sie in ihren Gefühlen verletzt.

Wir unterschätzen oft die Bedeutung vermeintlicher Kleinigkeiten. Wie wird zum Beispiel die Atmosphäre beeinflußt je nach dem ob wir Höflichkeitsregeln beachten oder nicht, ob wir Verabredungen einhalten oder nicht, ob wir rücksichtsvoll gegenüber den Bedürfnissen anderer sind oder nicht, ob wir anderen denselben Respekt entgegenbringen, den wir für uns selbst einfordern, oder nicht, ob wir lächeln oder mürrisch dreinschauen oder gar aggressiv und provozierend auftreten, ob wir grüßen und auf den anderen zugehen oder seine Gegenwart ignorieren, ob wir sympathisch auftreten oder durch unser Outfit Gefühle des Abscheus, Ekels oder gar der Bedrohung bei unserem Gegenüber auslösen. Und welche Folgen hat das wiederum für den Verlauf einer Begegnung, eines Gesprächs oder für die Austragung eines Konflikts? Wir neigen meist dazu, diese Dinge als reine Privatangelegenheit zu betrachten und uns jede Bewertung oder gar Einmischung anderer zu verbitten, aber nichts von dem, was sich in der Öffentlichkeit abspielt, kann ausschließlich privat sein, denn es hat eben Auswirkungen auf das Zusammenleben von Menschen. Davon, wie dieses gestaltet wird, hängt es aber zum größten Teil ab, wie wir uns fühlen, ob zufrieden oder unzufrieden, glücklich oder unglücklich. Zur Verantwortung jedes einzelnen gehört es deshalb, durch einfühlsames Beobachten und Überprüfung des eigenen Verhaltens auf seine Auswirkungen hin dazu beizutragen, daß sich dieses Zusammenleben für alle Beteiligten möglichst angenehm gestaltet. Emotionale Empathie nennen die Fachleute diese Fähigkeit des Menschen, deren Grundlage zwar angeboren ist, aber während des ganzen Lebens durch soziale Lernprozesse weiter ausgebaut werden kann und muß.

Verantwortung dieser ersten Art haben wir nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber uns selbst. Wenn wir die Sorge um uns selbst vernachlässigen, zum Beispiel die Sorge um unsere Gesundheit oder die Sorge um die Entwicklung unserer Fähigkeiten und Begabungen, wird sich zum einen unser Leben sicher nicht zu unserer Zufriedenheit entwickeln, zum andern können wir dann aber auch für die Gemeinschaft weniger tun und werden möglicherweise aufgrund eigenverschuldeter Notlagen fremde Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Der Verantwortung für uns selbst und für andere können wir aber nur gerecht werden, wenn wir unser Wollen selbst auf den Prüfstand stellen, indem wir fragen: Was will ich wirklich, welches von den verschiedenen Zielen ist wichtiger, worauf kommt es an? Nur wer sich diese Fragen stellt und zumindest versucht, sie vernünftig zu beantworten, kann dieser ersten Art der Verantwortung gerecht werden, der sich alle Menschen stellen müssen, nämlich der Verantwortung für die Auswirkungen ihres eigenen Handelns und Unterlassens auf sich und andere. Zu diesen anderen gehören übrigens auch die Menschn, die in Zukunft leben werden und mit unseren Hinterlassenschaften zurecht kommen müssen. Auch wir Heutigen leiden ja an mancherlei unheilvollen Konsequenzen, die sich aus dem Handeln unserer Vorfahren ergeben haben, und wir profitieren umgekehrt auch von den Werten, die sie geschaffen und an uns weitergegeben haben.

Die zweite Art der Verantwortung betrifft sicher auch alle Menschen, aber in besonderem Maße diejenigen, die über besondere, nicht bei allen in gleicher Weise anzutreffende Fähigkeiten und Begabungen verfügen. Sie betrifft also gerade auch euch, die Mitglieder der Jugendakademie, die ihr euch hier besonderen Herausforderungen gestellt habt, um eure Fähigkeiten zu erproben und zu entwickeln. Es ist diejenige Verantwortung, die wir freiwillig übernehmen und die über das hinausgeht, wozu wir alle in derselben Weise verpflichtet sind.

Jeder weiß, was es bedeutet, wenn irgendwo „Dienst nach Vorschrift“ gemacht wird. Das ist eine andere Form des Streiks. Es wird zwar noch gearbeitet, aber eben nur das Minimum erfüllt, wozu man verpflichtet ist. Die Folge ist, daß nichts mehr so funktioniert, wie wir es erwarten und wie es notwendig ist, damit alle zufrieden sind. Daran sieht man, daß jede Gesellschaft darauf angewiesen ist, daß zumindest ein Teil der Menschen bereit ist, freiwillig mehr zu leisten als das, wozu alle verpflichtet sind, daß Menschen freiwillig Aufgaben übernehmen, ohne eine angemessene Gegenleistung zu verlangen. Ist das der Fall, sagen wir, diese Menschen hätten Verantwortung übernommen. Eigentlich ganz schön verrückt von denen, könnte man meinen. Denn sie bekommen ja nichts dafür, daß sie ihre Freizeit opfern, und handeln sich stattdessen meistens eine Menge Streß ein. Warum machen die das denn dann? Dieser Frage müssen wir nachgehen, denn davon hängt es ja ab, ob solche Leute wirklich verrückt sind, oder ob es einleuchtende Gründe für ihre Entscheidung gibt, freiwillig Verantwortung zu übernehmen, und ob wir es ihnen nicht vielleicht nachtun sollten.

Der große Philosoph Emanuel Kant meinte, es komme einzig darauf an, daß jemand aus vernunftgemäßer Einsicht in die Notwendigkeit seine Pflicht erfülle. Er ging sogar soweit, zu bezweifeln, ob man von einer Person, die bei einer guten Handlung Freude empfinde, überhaupt sagen könne, daß sie aus ethischen Motiven gehandelt habe. Denn dann man wisse ja nicht, ob sie nicht allein aus eigennützigen Motiven handle, eben aus dem Motiv, sich diese Freude zu verschaffen. Besser sei es daher, wenn jemand durchaus widerwillig, aber aus vernunftgemäßer Einsicht seine Pflicht erfülle. Dann könne man jedenfalls sicher sein, daß er aus keinem anderen Motiv als seiner ethischen Überzeugung gehandelt habe.[2]

Das hört sich logisch an, trotzdem scheint es mir am Wesentlichen vorbeizugehen. Denn was Kant nicht bedenkt, ist, daß es für eine positive Gestaltung menschlichen Lebens und erst recht für das Funktionieren einer Demokratie keineswegs genügt, wenn möglichst viele Menschen ihre Pflichten erfüllen, zum Beispiel sich an die Gesetze zu halten oder zur Wahl zu gehen. Denn was dafür mindestens ebenso nötig ist, ist eben das, daß Menschen bereit sind, über das, wozu sie verpflichtet sind, hinauszugehen, mehr zu leisten und sich zu engagieren, also freiwillig Verantwortung zu übernehmen und dadurch auch anderen ein Beispiel zu geben. Die Demokratie z. B. funktioniert nur, wenn es auch genügend Bürger gibt, die in den Parteien mitarbeiten und sich als Kandidaten zur Verfügung stellen. Zu solchem freiwilligen Engagement sind Menschen aber im allgemeinen doch wohl nur bereit, wenn sie daraus Befriedigung ziehen, also Freude gewinnen.

Woher kommt diese Freude nun? Sie geht sicher zum einen aus der Sinnerfahrung hervor, also aus der Überzeugung, etwas für andere Menschen, für die Gemeinschaft Hilfreiches und Segensstiftendes getan zu haben. Dann aus der Wahrnehmung, daß diese anderen davon profitieren, daß es ihnen besser geht und sie das auch spüren. Schließlich aus dem Dank und der Anerkennung, die einem zuteil wird und die einem die Wertschätzung, Bewunderung und vielleicht sogar Freundschaft und Liebe anderer Menschen verschafft. Es ist wohl nicht zuletzt der Blick in leuchtende Augen, der für alle Mühen entschädigt. Vielleicht das Wichtigste ist aber, daß solches Engagement fast immer zu äußerst befriedigenden Begegnungen mit anderen Menschen führt, mit solchen, die einen unterstützen und mit denen man zusammenarbeitet, und mit solchen, denen man zu helfen oder die man zu fördern versucht. Das eigene Leben wird dadurch enorm bereichert und erhält Inhalt und Sinn. Und zwar einen Sinn, der aus der Erfahrung hervorgeht, daß wir die engen Grenzen unseres eigenen Daseins überschreiten können, daß wir an etwas mitwirken können, das größer ist als wir und wofür es sich lohnt, auch etwas einzusetzen und auf manches andere zu verzichten. Deshalb sagt man von jemandem, der sich stark für etwas einsetzt, er gehe in seiner Aufgabe förmlich auf. Das heißt, die freiwillig übernommene Aufgabe wird für ihn zum wichtigsten Lebensinhalt, hinter dem alles andere an Bedeutung weit zurücktritt.

Die in den Slums der Indischen Metropole Kalkutta in der Armenfürsorge tätige Friedensnobelpreisträgerin Mutter Theresa, der als „Apostel der Leprakranken“ bekannte Pater Damian de Veuster oder der im afrikanischen Gabun als Arzt in einem von ihm selbst gegründeten Urwaldhospital wirkende Albert Schweitzer, auch er Friedensnobelpreisträger, waren solche Menschen. Sie trafen die Entscheidung, ihr Leben radikal zu verändern und auf die meisten Annehmlichkeiten und anderes ihnen bisher wichtige zu verzichten, um die Not und das Elend von Menschen in fernen Ländern lindern zu können. Pater Damian de Veuster war sogar bereit, sich trotz der Ansteckungsgefahr auf die Leprastation der Hawaiinsel Molokai zu begeben, um den dort isolierten und hilflos sich selbst überlassenen Kranken Beistand zu leisten, wo er nach sechzehnjährigem Dienst 1889 schließlich selbst der Krankheit erlag.

Aus solchen Beobachtungen und Überlegungen haben manche großen Denker die Schlußfolgerung gezogen, daß es sogar eine spezielle moralische Verpflichtung zur Übernahme besonderer Verantwortung für diejenigen geben könnte, die über besondere Begabungen und Fähigkeiten verfügen. Diese nicht einzusetzen und ungenutzt verkümmern zu lassen, wäre dann als verwerfliches Fehlverhalten zu betrachten. Der Philosoph Aristoteles jedenfalls war der Ansicht, daß alle Wesen danach streben müssten, ihre Wesensnatur, das heißt ihre besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten, zu möglichst vollkommener Ausprägung zu bringen. Andernfalls würden sie den Sinn ihrer Existenz verfehlen. Wir sollten uns also freiwillig Aufgaben stellen, die geeignet sind, unsere besonderen Begabungen zur Entfaltung kommen zu lassen.

Dabei muß es sich keineswegs immer um Aufgaben von erhabener Dimension handeln, denen nur ganz wenige gewachsen sein können. Es genügt, daß es sich um etwas handelt, das nicht nur mir etwas bedeutet und nur meinen eigenen Interessen dient, sondern auch anderen etwas gibt. Ob ihr also in der Schülermitverwaltung mitarbeitet oder als Klassensprecher kandidiert, ob ihr in einem Chor oder Orchester, in einer Band oder in einer Tanz- oder Theatergruppe mitwirkt, ob ihr euch an einem sozialen Projekt eurer Schule beteiligt oder euch in einem Verein oder einer gemeinnützigen Organisation, in der Gemeinde eurer Religionsgemeinschaft oder auch in einer politischen Partei engagiert, überall in eurem Umfeld gibt es solche Möglichkeiten, sich, sei es als einfaches Mitglied, sei es in leitender Position, für etwas einzusetzen, das über das pure Eigeninteresse hinausreicht.

Vor einer Gefahr möchte ich aber an dieser Stelle auch warnen. Keine Weltanschauung, keine noch so erhaben erscheinende politische oder religiöse Ideologie kann es rechtfertigen, daß wir zur Durchsetzung unserer Überzeugungen und Ideen zur Weltverbesserung eigenmächtig zum Mittel der Gewalt greifen. Denn:[3]

 

ewig erneut sich dieser Fluch aller religiösen und politischen Ideologien, daß sie in Tyranneien ausarten, sobald sie sich in Diktaturen verwandeln. Im Augenblick aber da ein Geistiger nicht mehr der immanenten (also inneren) Kraft seiner Wahrheit vertraut, sondern zur Brachialgewalt greift, erklärt er der menschlichen Freiheit den Krieg. [...] Selbst die reinste Wahrheit, wenn andern mit Gewalt aufgezwungen, wird zur Sünde wider den Geist.

 

Wenn zutrifft, was ich über die Bedeutung der Übernahme von Verantwortung für das menschliche Leben gesagt habe, dann scheint die vorhin gestellte Frage, warum die, die freiwillig Verantwortung übernehmen, das machen und ob wir uns ihnen nicht anschließen sollten, schon auf einfache Weise beantwortet. Denn alle Beteiligten haben offenbar etwas davon, sowohl die, für die wir uns einsetzen als auch wir selbst, wenn wir uns für andere einsetzen. Die Sache stellt sich aber doch noch wesentlich komplizierter dar, wenn wir bedenken, daß es keine Garantie für den Erfolg unserer Bemühungen gibt. Wir können scheitern, alles, was wir versucht haben, kann nach hinten losgehen, vielleicht werden wir sogar angefeindet oder als Loser verspottet. Dann erscheinen unsere Mühen und Opfer umsonst gewesen zu sein. Wäre es da nicht vielleicht besser gewesen, etwas, dessen Erfolg nicht sichergestellt war, gar nicht erst zu versuchen? Erst recht, wenn es sich um Unternehmungen handelt, bei denen der Erfolg nicht nur unsicher, sondern unwahrscheinlich oder sogar nahezu unmöglich ist und bei denen, gerade auch im Falle des Scheiterns, ein hoher Preis zu entrichten ist?

Der eben schon zitierte Schriftsteller und Romanautor Stefan Zweig hat sich mit diesem Problem auseinandergesetzt, und zwar in einer politischen Situation, in der die Klärung dieser Frage unaufschiebbar geworden war. Im Jahr 1936, also drei Jahre, nachdem in Deutschland die nationalsozialistische Diktatur errichtet worden war, veröffentlichte der 1881 in Wien geborene und aufgewachsene Autor eine seiner vielgerühmten Biographien bedeutender historischer Persönlichkeiten. Diesmal aber hatte er sich einen damals so gut wie Unbekannten als Gegenstand seiner Darstellung ausgesucht, Sebastian Castellio, der in der Mitte des 16. Jahrhundert Professor für Altgriechisch in Basel gewesen war. Selbst Zweig war erst durch einen Hinweis des Genfer Pfarrers Jean Schorer auf den ihm bis dahin unbekannten Castellio und sein mutiges Eintreten für die Gedanken- und Gewissensfreiheit aufmerksam geworden. Gegen die Verurteilung des Theologen Michel Servet durch den Rat der Stadt Genf hatte er sich gewandt. Feuertod auf dem Scheiterhaufen unter verschärften Bedingungen wegen schwerer Ketzerei, also Verbreitung religiöser Irrlehren, so hatte das am 27. Oktober 1553 dann auch vollstreckte Urteil gegen Servet gelautet. Von keinem Geringeren als dem Reformator Johannes Calvin war es betrieben worden. Er beherrschte damals die Stadt Genf wie ein allmächtiger Diktator und war entschlossen, die strikte Beachtung seiner eigenen theologischen Lehrmeinungen mit allen Mitteln durchzusetzen. Castellio hatte nicht den Hauch einer Chance, das Leben Servets zu retten. Trotzdem war er entschlossen, auch unter Gefahr für sein eigenes Leben den Kampf gegen dieses verbrecherische Fehlurteil aufzunehmen und Calvin persönlich herauszufordern. In mehreren Schriften protestierte er im Namen der Toleranz öffentlich nicht nur gegen die Hinrichtung Servets, sondern gegen Ketzerprozesse an sich. In theologischen Detailfragen könne keiner ein so sicheres Wissen für sich beanspruchen, daß er daraus die Berechtigung ableiten dürfe, andere wegen ihrer abweichenden Ansichten zu verfolgen und zu bestrafen. Im übrigen sei weder solches Wissen für die Erlangung des Seelenheils notwendig, noch stünde der Streit der Christen über derlei Fragen mit dem Willen des Gottes der Nächstenliebe in Einklang.

Stefan Zweigs Biographie des Castellio durfte damals in Deutschland nicht erscheinen,[4] denn erstens war Zweig Jude und zweitens sein Werk eine kaum verhüllte Kritik an der Unterdrückung der Freiheit und an der Verfolgung von Regimegegnern durch die NS-Diktatur. Schon der Untertitel war brisant: „Ein Gewissen gegen die Gewalt.“ Ganz allein auf sich allein gestellt und trotzdem unerschrocken sei dieser Castellio gewesen, der[5]

 

während in allen Ländern die Ketzer vom Wahne der Zeit gleich Treibvieh gejagt und gefoltert werden, für diese Entrechteten und Geknechteten das Wort erhebt und über den Einzelfall hinaus allen Machthabern der Erde ein für allemal das Recht bestreitet, irgendeinen Menschen ebendieser Erde um seiner Weltanschauung willen zu verfolgen! Der es wagt, in einem jener furchtbaren Augenblicke der Seelenverfinsterung, wie sie von Zeit zu Zeit über die Völker fallen, sich den Blick klar und menschlich zu bewahren und alle diese frommen Schlächtereien, obwohl angeblich zur Gottes Ehre vollzogen, mit ihrem wahren Namen: Mord, Mord und abermals Mord zu nennen! Der, im tiefsten Gefühl seiner Menschlichkeit herausgefordert, als einziger das Schweigen nicht mehr erträgt und bis in die Himmel seine Verzweiflung über die Unmenschlichkeiten schreit, allein für alle kämpfend und gegen alle allein!

 

Doch worin soll der Sinn solchen Heldentums liegen, wenn ihm doch der Erfolg versagt blieb und Castellio nur durch seinen plötzlichen Tod der Verurteilung als Ketzer und dem Feuertod entging?

Stefan Zweig, der sich ganz offensichtlich mit Castellio identifizierte und die Parallelen zur eigenen Zeit klar erkannte und deutlich genug hervortreten ließ, sah das so:[6]

 

Gerade dies aber, daß Castellio von Anfang an die Aussichtslosigkeit seines Kampfes vorauswußte und ihn, gehorsam gegen sein Gewissen, dennoch unternahm, dies heilige Dennoch und Trotzalledem rühmt für alle Zeit diesen ,unbekannten Soldaten‘ im großen Befreiungskriege der Menschheit als Helden.

 

Deshalb sollte der Widerstand Castellios gegen Calvin nach Meinung Zweigs „denkwürdig bleiben“, und dem sollte seine Biographie dienen. Denn die Erinnerung an Menschen wie ihn lehre, daß der Geist die Unterdrückung seiner Freiheit auf die Dauer nicht zulasse:[7]

 

Mit jeder Unterdrückung wächst sein dynamischer Gegendruck [...], jede Unterdrückung führt früher oder später zur Revolte. [...] Allezeit werden sich unabhängige Geister finden zur Auflehnung gegen solche Vergewaltigung der menschlichen Freiheit [...] und nie konnte eine Zeit so barbarisch sein, nie eine Tyrannei so systematisch, daß nicht immer einzelne es verstanden hätten, der Massenvergewaltigung zu entweichen und das Recht auf eine persönliche Überzeugung gegen die gewalttätigen Monomanen ihrer eigenen und einzigen Wahrheit zu verteidigen.

 

Für diese Idee der Freiheit und die Aufrechterhaltung der Hoffnung auf ihre Wiederherstellung haben sowohl Sebastian Castellio als auch sein Biograph Stefan Zweig Verantwortung übernommen, und darin liegt auch der Sinn ihres gescheiterten Widerstandes. Castellio hatte Servet nicht zu retten und den Diktator Calvin nicht zu stürzen vermocht, seine Schriften und die Erinnerung an ihn wurden von den Calvinisten jahrhundertelang erfolgreich unterdrückt. Zweig kam zwar noch vor der Besetzung und Annexion seines Heimatlandes durch das deutsche Reich zu dem Entschluß, sich angesichts des wachsenden Einflusses der Nationalsozialisten in Österreich und ersten Maßnahmen gegen seine Person seinen Verfolgern durch Flucht zu entziehen, doch nahm er sich schließlich am 23. Februar 1942, verzweifelt über den Untergang der Welt in der und für die er gelebt hatte, im brasilianischen Exil das Leben. War also damit sein Versuch geistigen Widerstandes endgültig gescheitert?

Als Stefan Zweig sein Buch schrieb, mit dem er seinen Beitrag zum geistigen Widerstand gegen die menschenverachtende NS-Diktatur zu leisten versuchte, kämpften in Deutschland bereits zahlreiche mutige Menschen, Frauen und Männer, im Untergrund unter äußerster Lebensgefahr gegen das verbrecherische Regime. Hier in Mannheim war es z. B. die sozialdemokratische Gruppe Rechberg unter Leitung des aus Heidelberg stammenden Pharmaunternehmers Emil Henk, der auch nach der Enttarnung der Gruppe und jahrelanger Konzentrationslagerhaft, kaum aus dem KZ entlassen, seinen Widerstand wiederaufnahm. Er stand über seine Darmstädter Freunde Carlo Mierendorff und Theo Haubach, Sozialdemokraten wie er, in Verbindung mit dem Kreisauer Kreis, aus dessen Mitte dann das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 geplant wurde. Zu diesem Kreis von Regimekritikern gehörte auch der Mannheimer Jesuitenpater Alfred Delp. Emil Henk zählte zu den wenigen Überlebenden des Kreises, dessen Mitglieder nach dem Scheitern des Attentats systematisch verfolgt, in Scheinprozessen vom sogenannten „Volksgerichtshof“ verurteilt und auf grausame Weise ermordet worden waren. Später wurde er Vorsitzender der Stiftung 20. Juli 1944, die sich bis heute um die Unterstützung der Hinterbliebenen der Widerstandskämpfer und um die Pflege ihres Angedenkens bemüht.

All diese Widerstandskämpfer waren sich sehr genau darüber im Klaren, daß ihre Chancen, das NS-Regime zu stürzen, seinen Verbrechen ein Ende zu bereiten und die Freiheit in Deutschland und im besetzten Europa wiederherzustellen, äußerst gering waren. Trotzdem haben sie den Versuch gewagt. Einer von ihnen, der Offizier Henning von Tresckow, neben Claus Schenk Graf von Stauffenberg einer der mutigsten und entschlossensten Anführer der Gruppe, begründete 1944 die Entscheidung, angesichts des extrem hohen Risikos trotzdem zu handeln, folgendermaßen:[8]

 

Das Attentat auf Hitler muß erfolgen, um jeden Preis. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem der Staatsstreich versucht werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andre ist daneben gleichgültig.

 

Und schon zu Beginn ihrer Widerstandstätigkeit hatten die Freunde Carlo Mierendorff und Theo Haubach folgende Devise gewählt:[9]

 

Die Grenze der Gewalt liegt nun darin, daß sie zwar die Person des Widerstandskämpfers, aber nicht die Gesinnung des Widerstandes vernichten kann.

 

Die Begründung lautet:

 

Wäre es praktisch möglich, sämtliche Gesinnungsträger des Widerstandes total zu vernichten, so käme dieser Ausrottung der Personen auch maximal eine Ausrottung der Gesinnungen nahe. Nicht aber kann bei einer solchen Ausrottung die Erinnerung an das Geschehene selbst vernichtet werden.

 

Schon in der Haft, aber noch vor seiner Verurteilung schrieb Pater Delp:[10]

 

Ich vertraue fest. Auch die Freunde werden mich nicht im Stich lassen. Es ist ein Moment, in dem die ganze Existenz in einen Punkt eingefangen ist, und die ganze Wirklichkeit mit. Ich muß restlos Farbe bekennen. Die Realität Gottes, des Glaubens, der Welt, der Dinge und Zusammenhänge, die Verantwortung und Verantwortlichkeit für Worte und Handlungen, die Gnadenhaftigkeit und Kämpferischkeit des Daseins, alles will auf einmal realisiert werden.

 

Und nach der Verurteilung zum Tod, kurz vor seiner Hinrichtung notiert er:

 

Bis jetzt hat mir der Herrgott sehr herzlich und herrlich geholfen. Ich bin noch nicht erschrocken und noch nicht zusammengebrochen. Die Stunde der Kreatur (also der Todesangst) wird schon auch noch schlagen. Manchmal kommt eine Wehmut über mich, wenn ich an das denke, was ich noch tun wollte. Denn jetzt bin ich ja erst Mensch geworden, innerlich frei und viel echter und wahrhafter, wirklicher als früher.

 

Pater Delp hatte demnach, auch auf der Grundlage seines religiösen Glaubens, die Erfahrung gemacht, die ganze Fülle der Möglichkeiten menschlicher Freiheit und damit den vollen Sinn seiner menschlichen Existenz erst in dem Augenblick verwirklicht zu haben, als er mit diesem seinem Leben einzutreten hatte für seine Gewissensentscheidung, Verantwortung zu übernehmen. Ganz ähnliches gilt für den protestantischen Theologen Dietrich Bonhöfer, der seit 1933 gegen die NS-Verbrechen protestierte, die ihm 1939 angebotene Emigration in die USA bewußt ablehnte und wegen seiner Mitwirkung in Widerstandsgruppen nach fehlgeschlagenen Attentaten auf Hitler, die er als Tyrannenmord gebilligt hatte, am 5. April 1943 inhaftiert und noch wenige Tage vor Kriegsende am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet wurde.

Andere haben ihre Aufgabe darin gesehen, den Opfern der Verbrecher Beistand zu leisten wie die Sängerin Marianne Golz-Goldlust, die von Prag aus vielen Juden bei der Flucht ins Ausland geholfen hatte, bis sie verhaftet und als Reichsfeindin zum Tode verurteilt wurde. Im Gefängnis organisierte sie einen heimlichen Briefverkehr unter den Häftlingen, die sich dadurch angesichts der nahenden Hinrichtung durch das Fallbeil auf heute noch anrührende Weise gegenseitig seelischen Beistand leisteten.[11]

Oder wie Janusz Korczak, der die ihm anvertrauten Warschauer jüdischen Waisenkinder in das Vernichtungslager Treblinka begleitete und – er, der Autor des Buches „Wie man ein Kind lieben soll“,[12]  – Ernst machte mit dem, was er geschrieben hatte, indem er sein Leben preisgab, um sie zu trösten und zu beschützen und nicht in ihrer äußersten Not im Stich zu lassen. Wieder andere weigerten sich auch unter stärkstem Zwang, an den NS-Verbrechen mitzuwirken, wie der Vorsitzende des Judenrats im Warschauer Ghetto Adam Czerniaków. Als die SS ihn zu zwingen versuchte, die Deportation der Juden ins Vernichtungslager zu organisieren, entschied er sich am 23. Juli 1942 für den Freitod, um wenigstens nicht durch Mitmachen Mitverantwortung für den Völkermord zu übernehmen, wenn er ihn schon nicht verhindern konnte. Im Abschiedsbrief an seine Mitarbeiter schrieb er:[13]

 

Sie waren bei mir und verlangten, daß für morgen ein Kindertransport vorbereitet wird. Damit ist mein bitterer Kelch bis zum Rand gefüllt, denn ich kann doch nicht wehrlose Kinder dem Tod ausliefern. Ich habe beschlossen abzutreten. Betrachtet das nicht als einen Akt der Feigheit oder der Flucht. Ich bin machtlos, mir bricht das Herz vor Trauer und Mitleid, länger kann ich das nicht ertragen. Meine Tat wird alle die Wahrheit erkennen lassen und vielleicht auf den rechten Weg des Handelns bringen. Ich bin mir bewußt, daß ich Euch ein schweres Erbe hinterlasse.

 

Später übernahm Mordechaj Anieléwicz die Führung des Aufstandes im Warschauer Ghetto, der von den zahlen- und ausrüstungsmäßig den SS-Truppen hoffnungslos unterlegenen Kämpfern, darunter viele Jugendliche, junge Frauen und Mädchen, ohne jegliche Aussicht auf Erfolg vom 19. April bis zum 10. Mai 1943 durchgehalten wurde, um wenigstens ein Zeichen zu setzen und sich nicht wie Lämmer zur Schlachtbank führen zu lassen. Die wenigen, denen die Flucht gelang, setzten oft als Partisanen den Kampf fort. Nur ganz wenige von ihnen haben den Krieg überlebt.

Auch an den Polen Pater Maximilian Kolbe möchte ich erinnern. Als im Konzentrationslager Auschwitz wegen Flucht eines Häftlings aus dem Lager mit Repressalien gegen die Häftlinge vorgegangen wurde, erklärte er sich bereit, anstelle eines jungen Familienvaters den Tod im Hungerbunker auf sich zu nehmen, wo er nach zwei Wochen am 14. August 1941 durch die Giftspritze getötet wurde. Wenn man Stefan Zweigs Einleitung zur Biographie Castellios liest, könnte man meinen, er habe das alles und die vielen weiteren Beispiele, die man hier aufzählen müßte, bereits vor Augen gehabt.

Die verschiedenen Widerstandsgruppen und einzelnen Widerstandskämpfer haben zwar vielen Verfolgten Beistand geleistet und nicht wenigen auch das Leben gerettet, aber sie sind, wie ihr wißt, sämtlich an dem Versuch gescheitert, das verbrecherische Regime zu stürzen. Das ist erst den Armeen der Aliierten gelungen, an deren Sieg im II. Weltkrieg gerade vor wenigen Tagen in Gedenkveranstaltungen zum 70. Jahrestag der Kapitulation erinnert worden ist. Auch dieser Sieg über die Massenmörder war aber nur möglich, weil viele Menschen, Politiker und hohe Militärs, aber auch ganz normale Bürger, zum Teil sogar sehr einfache, wenig gebildete Menschen, bereit waren, Verantwortung zu übernehmen, sich freiwillig einzusetzen, Mühen und Leiden auf sich zu nehmen und sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Am Ende hatten sie dann schließlich auch Erfolg, aber ohne die Hoffnung, die auch in den finstersten Zeiten aufrechterhalten wurde durch den „Kampf des Gewissens gegen die Gewalt“ und durch das „heilige Dennoch und Trotzalledem“ der Widerstandkämpfer, von dem Stefan Zweig spricht, wäre es dazu wohl nicht gekommen.

Das alles ist lange her, und man könnte fragen, was es uns noch angehen soll, wo wir doch heute in ganz anderen und zum Glück wesentlich günstigeren Verhältnissen leben. Wozu behellige ich euch heute noch mit solchen Erinnerungen, die düster sind und quälend, auch wenn sie durch den tröstlichen Gedanken ein wenig aufgehellt werden, daß es auch und gerade unter diesen fürchterlichen Bedingungen Menschen gab, die ihre Menschlichkeit unter Beweis gestellt und sich ihrer Verantwortung nicht entzogen haben?

Nun, zum einen bleiben günstige Verhältnisse eben nicht von selbst bestehen. Nur wenn möglichst viele Menschen zu verantwortlichem Handeln und wenigstens einige auch zur Übernahme von Verantwortung noch über das von jedem einzelnen geforderte Maß hinaus bereit sind, besteht eine Chance, diese günstigen Verhältnisse dauerhaft aufrecht zu erhalten oder auch noch weiter zu verbessern und dadurch die Voraussetzungen für ein Leben zu schaffen, wie wir es uns alle wünschen, ein Leben in Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und beglückenden zwischenmenschlichen Beziehungen. Und daß es da noch viel zu tun gibt, merken wir, wenn wir zur Kenntnis nehmen, was sich in der Nachbarschaft des vermeintlichen Paradieses Europa oder gar in ferneren Regionen der Welt abspielt, genauso, wie wenn wir uns mit wachen Augen in unserer näheren Umgebung umschauen. Dazu muß man übrigens ab und zu seine Augen von den paar Quadratzentimetern abziehen, die viele heute irrtümlich für den „Eingang zur Welt“[14] halten, obwohl das Smartphone doch die meisten nur dazu verführt, ihre Zeit mit Sinnlosem totzuschlagen und tatenlos die Ausbreitung innerer Leere und Abstumpfung hinzunehmen, anstatt sich der Verantwortung für sich und ihre Mitmenschen zu stellen. Nur, wenn wir dazu bereit sind, ist es möglich, zu beglückender Lebensintensität und zu sinnstiftenden Erfahrungen und Begegnungen zu gelangen. Nur wenn wir  – und das ist der zentrale Gedanke der Freiheitsethik Immanuel Kants[15] – von unserer Freiheit den richtigen Gebrauch machen, indem wir unseren Willen auf das richten, wofür wir Verantwortung zu tragen verpflichtet sind oder wofür wir diese in freiwilliger Selbstverpflichtung auf uns genommen haben, nur dann dürfen wir nicht nur tatsächlich, sondern dann sollen wir sogar machen, was wir wollen. Denn nur in verantworteter Freiheit kann menschliches Leben gelingen.

 


[1] Raymond Klibanky, Erinnerungen an ein Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, S. 209.

[2] Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 398f. [http://www.korpora.org/kant/aa04/398.html]

[3] Stefan Zweig, in: Das Manifest der Toleranz. Sebastian Castellio über die Ketzer und ob man sie verfolgen soll, Essen 2013, S. 32f.

[4] Stefan Zweig, Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt. Wien u. a. 1936, die erste Ausgabe erschien erst lange nach dem Ende der NS-Diktatur, bei S. Fischer, Berlin Fankfurt am Main 1954, 15. Aufl. Frankfurt am Main 2009.

[5] Ebd. S. 29.

[6] Ebd. S. 30. Vgl. Uwe Plath, Der Fall Servet und die Kontroverse um die Freiheit des Glaubens und des Gewissens. Castellio, Calvin und Basel 1552-1556, Essen 2014.

[7] Ebd. S. 33.

[8] Erich Zimmermann u. a., 20. Juli 1944, 3. Aufl. Bonn 1960, S. 271.

[9] Theodor Haubach, Militärische und politische Gewalt, in: Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, hg. von Hilferding 1, 1924, Nr. 7 [Oktober], S. 30-39, hier S. 35; vgl. Annedore Leber, Karl Dietrich Bracher [Hrsg.], Das Gewissen steht auf. Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand, Mainz 1984, S. 182.

[10] Erich Zimmermann u. a., 20. Juli 1944, 3. Aufl. Bonn 1960, S. 244.

[11] Ronnie Golz, Ich war glücklich bis zur letzten Stunde. Marianne Golz-Goldlust 1895-1943, Berlin 2004.

[12] Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, 15. Aufl. Göttingen 2012.

[13] Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939–1942, München 1986, S. 285; neue Aufl. München 2012.

[14] Vgl. dagegen Stefan Zweig, Das Buch als Eingang zur Welt, in: Ders., Begegnungen mit Menschen, Büchern, Städten, Wien u. a. 1937, Frankfurt am Main 1956, S. 309-317, auch in: Ders., Essays. Auswahl, Leipzig 1990, S. 5-14.

[15] „Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“ (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, Bd. IV, Berlin 1911, S. 400 [[http://www.korpora.org/kant/aa04/400.html]); Vgl. Kant ebd. S. 393-403 [http://www.korpora.org/kant/aa04/393.html].